Sinnstiftung durch Demokratie?

Voraussetzungen für ein erfolgreiches Zusammenleben

Gerhard Wegner

6th Conference of Scientific Cooperation between Lower Saxony and Israel, 18.-19. März 2024

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Meine sehr verehrten Damen und Herren! 

Ich bedanke mich herzlich für die Einladung hier heute Abend zu Ihnen sprechen zu dürfen und ein derzeit ungemein wichtiges Thema mit Ihnen zu teilen: die Zukunft der Demokratie als der konstituierende Rahmen für unser Zusammenleben in Deutschland- und nicht weniger in Israel. 

Sinnleere Regeln 

Dabei mag der Titel irritieren: Sinnstiftung durch Demokratie? Soll Demokratie das überhaupt anstreben? Viele liberale Protagonisten würden eine solche Erwartung sofort empört zurückweisen. Sinnstiftung ist Sache der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure – gerade nicht der staatlichen. Und das ist ja auch nicht falsch. Mit einer Demokratie als Form des Staates wird man eine friedliche Koexistenz vieler verschiedener, vielleicht sogar sich widersprechender Sinnstiftender schaffen. Sie selbst muss sich aus diesem konfliktreichen Gefüge heraushalten und beschränkt sich deswegen auf formale Prozeduren und gewissermaßen in sich selbst -,,sinnleere“ Regeln aller Art. Das macht Demokratie immer wieder schwer zugänglich, zeitraubend, auch langweilig und führt bei den Bürgerinnen und Bürgern, denen konkrete Probleme auf den Nägeln brennen, nicht selten zu Überdruss, gerade dann in Zeiten primär ego- und nutzenorientierter Einstellungen. 

Bürgerinnen und Bürger erwarten Führung, Entscheidungen, begeisternde Reden, vielleicht auch Charisma und nicht einen Vorgang mit Wiedervorlage in 6 Monaten und in dritter Lesung nach den einschlägigen Ausschussberatungen und am Ende einen faulen Kompromiss. Auch deswegen sind Politiker und Politikerinnen, trotz ihrer großen Bedeutung für das Land, wenig populär und rangieren im Berufsprestige – Ranking immer weiter ganz unter (knapp hinter Bankern). Zudem ist das Prinzip der Mehrheitsentscheidung nicht immer einleuchtend, so wie es auch die klassischen Differenzen von rechts und links, die einst Erhebliches zur Übersichtlichkeit der Demokratie beitrugen, kaum noch sind. Alles ist heute politisierbar – alles kann entsprechend moralisiert werden. Im Hintergrund treibt eine immer weiter greifenden Ausdifferenzierung systemischer Logiken die Komplexität gesellschaftlichen Lebens voran – worauf jetzt aktuell Veith Selk hingewiesen hat.1 Auf all dem surft der Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus mit wachsenden Erfolgen – nicht nur in Deutschland – und bedient das Ressentiment. Kann die Demokratie die wesentlichen zentralen Probleme lösen? 

Neues Interesse an Demokratie.

1 Veith Selk:,,Demokratiedämmerung Eine Kritik der Demokratietheorie. Berlin 2023. 

Sie merken schon, worum es mir geht: um das in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten nachlassende Interesse an der Demokratie – was sich lange auch in einer geringer werdenden Wahlbeteiligung ausgedrückt hat. Dieser Trend hat sich nun allerdings gewandelt, seit eine neue, mittlerweile eindeutig rechtsradikale, Partei das Feld mit wachsendem Erfolg betreten hat. Sie macht Demokratie wieder spannend, weil sie offenkundig mit ihrer Abschaffung kokettiert. Dem stimmen immer mehr Menschen zu – besonders im Osten Deutschlands, wo diese Partei bei den nächsten Landtagswahlen Regierungsgewalt übernehmen könnte. Und sie hat – mit erheblicher Verzögerung – seit Beginn dieses Jahres zu einer gewaltigen demokratischen Gegen-Mobilisierung geführt, in der mit Demokratie weit mehr als nur Regeln und Verfahren assoziiert werden. Neu erwacht ist hier der Ursprungsimpuls der deutschen Demokratie, der seinerzeit nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ein ganz klares,,Nie wieder!“ artikulierte und sich im antifaschistischen deutschen Grundgesetz niederschlug.,,Nie wieder ist jetzt“ – so klang es nun in den letzten Wochen überall in Deutschland. 

Die Demokratie gewinnt folglich Sinn durch ihre Infragestellung. Man begreift, was man verlieren könnte – und dies gerade dadurch, dass nun andere, Feinde der Demokratie, sie nutzen, um sie zu beseitigen. Denn das ist ihr Grundproblem, jedenfalls solange man sie vor allem als formales Verfahren begreift: wenn es die Mehrheitsverhältnisse möglich machen, kann sie sich selbst abschaffen. Mittels eines gezielten Angriffs von Verfassungsgegnerinnen und -gegnern gar könnte schnell ein neues Regime etabliert werden. Und letztlich kann sich eine Demokratie gegen den Willen der Mehrheit ohnehin nicht behaupten. 

Das war eine der entscheidenden Lehren aus der ersten deutschen Demokratie in den Jahren zwischen den Weltkriegen, der,,Weimarer Republik“. Das sollte nie wieder möglich werden – aber es bleibt es, weil diese Möglichkeit in Demokratien nie völlig ausgeschaltet werden kann. In anderen Staatsverfassungen ist das Risiko, zu einer Terrorherrschaft überzugehen, natürlich noch ungleich höher. Nur eben: Geht es nach der Meinung von bis zu einem Fünftel der Deutschen derzeit, ist es anscheinend legitim, eine in großen Teilen anerkannt rechtsradikale Partei zu wählen und ihr Zugang zur Staatsgewalt zu verschaffen. Ist das noch Demokratie? I.S. des Einhaltens von Verfahren und Regeln ist es das. Aber Demokratie ist weit mehr. 

Würde: Freiheit von Fremdbestimmung 

Was die Menschen derzeit in Deutschland – und wohl auch in Israel vor dem 7. Oktober – in Massen auf die Straßen treibt ist nicht die Liebe zu formalen Verfahren und Regeln, sondern zu dem, was vor allem an Freiheitsrechten (aber auch sozialen Rechten) durch diese Verfahren und Regeln garantiert werden soll und was im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ganz zu Beginn festgehalten ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dann wird auf die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ verwiesen. Und dann folgt der Katalog der Grundrechte, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als,,unmittelbar geltendes Recht“ binden? Dieser Artikel unterliegt einer,,Ewigkeitsgarantie“ und kann folglich von keiner Mehrheit geändert werden. Aber natürlich lässt er sich durchaus unterschiedlich deuten. Dies ist der Kerngehalt der Demokratie – in ihm liegt ihre Sinnstiftung begründet. Ein System von Prozeduren – auch mit Wahlen und Beteiligungsregeln, die diesen Fokus nicht mehr aufweisen würde – ganz gleich, ob es so gesagt oder nur entsprechend gehandelt werden würde – wäre folglich keine Demokratie mehr. Ihr Kerninteresse ist ein Leben in Freiheit von Fremdbestimmung möglich zu machen, wohinter mit Judith Shklar gesagt das „universelle menschliche Interesse (steht), vor Grausamkeit geschützt zu werden.“2 Es kann keinen Zweifel daran geben, dass trotz der gegenwärtigen Bedrohung die ganz große Mehrheit der Deutschen dieses grundlegende Ziel ihrer politischen Ordnung vollkommen trägt. 

Deutlich bleibt es aber so, dass dieser Sinn der Demokratie, trotz des Pathos der Würde des Menschen oder vielleicht gerade deswegen, weder ein für alle Mal festgelegt, noch irgendwie fixierbar wäre. Er bleibt umkämpft und entwickelt sich beständig weiter. Was war in dieser Hinsicht zur Zeit der Abfassung des Grundgesetzes nicht noch alles mit der Würde des Menschen verträglich! Ungleiche Rechte von Männern und Frauen allemal – und natürlich weit mehr, was z. B. die Toleranz gegen Gewaltausübung anbetraf. Überhaupt soziale Ungleichheit: ihre Abschaffung steht nicht im Fokus liberaler Demokratie – sie kann im Gegenteil durch sie gerechtfertigt werden! Aber entscheidend ist, dass die Referenz auf die Würde des Menschen in allen Entwicklungen einen letztlich stabilen Leitrahmen darstellt, ebenso wie die Grundrechte. In gewisser Hinsicht sind diese Formulierungen,,Leerformeln“, die von unterschiedlichen Interessen her gefüllt werden müssen: Waffenstillstandslinien im dauernden Interessenkampf. Und genauso garantieren sie Demokratie, die genauso,,leer“ erscheint und gerade so ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Bildhaft gesagt: Die Krönungszeremonien der Demokratie können nur gefeiert werden, solange sich keiner auf den Thron setzt. Sobald das geschieht ist die Demokratie am Ende. 

Dennoch braucht es eine geteilte Basis. Thomas Steinfeld hat hierzu treffend ausgeführt, dass Demokratie nur Bestand hat, wenn sich eine deutliche Mehrheit in wesentlichen Angelegenheiten einig ist. Rein als mathematische Verhältnisbestimmung kann sie nicht überleben.,,Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende ,Common Sense’ von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird.“3 Solch ein Common Sense lebt von sinnvollen, sinnstiftenden Inhalten, von Fiktionen, Narrationen, Imaginationen. Anders gesagt: Demokratie lebt nicht primär vom Konsens über Regeln, sondern von emotionaler Energie. 

Wehrhafte Demokratie 

Demokratie ist mithin, wenn sie lebt, hoch flexibel – aber so auch hoch fragil. Und das spüren wir zurzeit in Deutschland und mehr noch in den USA. Allerdings ist die Demokratie nicht wehrlos. Wer sie als Person, Organisation oder als Partei beseitigen will, kann dafür sanktioniert werden. Auch das regelt das Grundgesetz. Wer die Grundrechte zum Kampf gegen die demokratische Ordnung missbraucht,,,verwirkt diese Grundrechte“ (Art. 18). Man kann diesen Personen folglich ihre Wählbarkeit entziehen. Ein Grundrecht darf nicht in seinem Wesensgehalt angetastet werden (Art 19). Alle Deutschen haben das Recht zum Widerstand gegen jeden, der die Grundordnung beseitigen will (Art. 20). Parteien, die die demokratische Ordnung beseitigen wollen, können als verfassungswidrig erklärt und folglich verboten werden (Art. 21). Volksverhetzung – insbesondere alles, was auf den Nationalsozialismus Bezug nimmt – ist verboten (StGB 84 ff, StGB 130). Der Geist, der aus diesen Regelungen spricht, bezeichnet keine abstrakten Möglichkeiten, sondern wirkt sich in der Praxis aus. So können Demonstrationen, die zwar nicht genehmigt werden müssen, dennoch Auflagen gemacht werden, um offen demokratiefeindliches Auftreten zu verhindern, und das geschieht z.B. hier in Hannover, was antisemitisches Verhalten gegenüber Israel anbetrifft. 

2 Zitat bei Elif Özmen: Was ist Liberalismus? Berlin, 2023, 105. 
3 Thomas Steinfeld in der SZ vom 12.6.2019. 

Demokratie als Lebensform 

Folglich ist Demokratie deutlich weit mehr als nur das Befolgen von Regeln. Es stellt eine Lebensform dar wenn man so will eine Meta-Lebensform – die sich über – besser vielleicht: unter – den vielen, bunten Lebensformen der Staatsbürgerinnen und den Staatsbürgern, entwickelt. Man könnte auch von einer,,Kultur der Demokratie“ sprechen, die alles andere überwölbt und in etwas Gemeinsames einbettet. Über dieses Gemeinsame wird immer wieder gestritten. Eine „deutsche Leitkultur“ wurde von vielen Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt, aber die Zustimmung zu bestimmten kulturellen und anderen Minimalbedingungen, wie den Regeln des Grundgesetzes, würden große Mehrheiten zustimmen. Das setzt allerdings voraus, dass die Lebensformen der Bürgerinnen und Bürgern der Demokratie in der einen oder anderen Weise ,,entgegenkommend“ (Jürgen Habermas) sind oder wenigstens überlappend (John Rawls). Nein: Demokratie ist kein Heim, in dem man es sich gemütlich machen und den Feierabend verbringen könnte. Es braucht keinen Wertordnungsfundamentalismus – er wäre sogar gefährlich. 

Aber es muss mit Martha Nussbaum gefragt werden:,,How can the public culture of a nation, that repudiates all religious and ideological establishments, have enough substance and texture to be capable of the type of poetry, oratory, and art that moves real people?”4 Am Ende ihres Buches zitiert sie Walt Whitman:,,,America is only you and me.’ We should aspire to nothing less.”5 Das ist der Kern des Ganzen! Die Substanz der Demokratie. Und überhaupt America. Wenn sie in Washington von Georgetown den Potomac hochfahren – eine beliebte Touristentour – kommen sie hinter dem Lincoln Memorial vorbei. In dem Augenblick schaltet sich der Lautsprecher auf dem Schiff ein und sie hören eine Stimme:,,I have a dream…” Martin Luther Kings berühmte Rede vom 28.8.1963. Man bekommt eine Gänsehaut und ist mittendrin in dem, was damals geschah. So funktioniert emotionale Energie. 

Es ist unser Land 

Es braucht Begeisterung für ein Leben in Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, was es nur in einer Demokratie geben kann. Wir sollten nie vergessen, wie lang und opferreich der Weg zu ihr war. Deutschland ist in einer weltweit einmalig fürchterlichen Weise von diesem Weg abgewichen und braucht heute alle Kraft, einen erneuten Rückfall in die Barbarei zu vermeiden. 

Um es mit Susanne Baer und Nina Alizadeh Marandi zusammenzufassen:,,Das Grundgesetz verspricht Freiheit, aber keine rücksichtslose Selbstverwirklichung; Schutz aber keine Privilegien; Gleichheit aber keine Gleichmacherei; Würde, aber wirklich für alle. Für eine solche Verfassung muss auch heute gekämpft werden.“6 Es ist unser Land.

4 Martha Nussbaum: Political Emotions. Why Love matters or Justice. Harvard University Press, 2013, 387.
5 Ebda, 397
6 Susanne Baer / Nina Alizadeh Marandi: Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes. In: APUZ 9-11/2024, 11-17. 

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